Im Sog der Abwärtsspirale

Ein beliebtes Mittel von Politik und Verwaltung war es, die Argumente der Anwohner durch Relativierung abzuschwächen. So sind die Anwohner der Meinung, die Verkehrsbelastung wird ihnen zu viel. Aber was ist „zu viel“? Auch wird der Pflegebau als zu breit und zu hoch empfunden. Aber wann ist ein Gebäude „zu hoch“? Objektiv zu fassen sind diese Begriffe ihrer Natur nach nicht.

Ein gerne eingesetzter Kniff der Gegenseite war es daher, den Interpretationsspielraum möglichst weit nach oben zu schrauben, etwa indem die Situation vor Ort mit der noch miserableren Lage in anderen Stadtteilen oder ganz einfach mit erschreckend hohen amtlichen Zahlen, die sich irgendwann mal ein Investor-freundlicher „Experte“ ausgedacht hat, verglichen wurde. Damit sollten unserer Meinung nach Maßstäbe verschoben werden, um Maß und Mitte umzudefinieren. Dieser Vorgang ist übrigens in der Sozialpsychologie unter dem Begriff „Shifting Baseline„, also dem Verschieben von Bezugspunkten, recht bekannt. Das Shifting-Baseline-Syndrom bezeichnet ein Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung von Wandel, indem die Referenzpunkte, die der menschlichen Wahrnehmung beim Bemessen von Wandel dienen, langsam aber stetig verschoben werden.

So musste sich die Bürgerinitiative zum Thema „fließender Verkehr“ von der Politik anhören, man möge doch nicht jammern, auf so manchen dicht befahrenen Straßen in Birkesdorf wäre es viel schlimmer. Als dann das Verkehrsgutachten vorlag und einen Spitzenverkehr von ca. 250 PKW/h am Wingert auswies, wurde das Argument gebracht, der maximale Grenzwert wäre noch lange nicht erreicht. Denn dieser liegt bei sage und schreibe 800 PKW/h. Ja, da mag der ein oder andere, der die Straßenverhältnisse Am Wingert kennt (der Wingert ist nur 6 m breit und einseitig ständig zugeparkt), nur noch staunen. Gut dreimal soviel Verkehr wie heute soll dort nach Regelwerk möglich sein! Grotesk, aber nach gutachterlichen Richtlinien, die keine Rücksicht auf die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen nehmen,  sondern nur „Kapazitäten von Straßen“ kennen, erwiesen!

Beim Thema Gebäudehöhe wurde mitnichten gewürdigt, dass die Nachbarbebauung aus einer lockeren Mischung aus eingeschossigen bis zweieinhalbgeschossigen Gebäuden besteht. Statt dessen wurde immer und ausschließlich auf die Dachspitze des allerhöchsten Gebäudes am Platz Bezug genommen, welche allerdings durch den geplanten Pflegebau auch noch um knapp 2 m überragt werden wird. Ja, so wird Höhe relativiert und gesteigert, indem man sich das höchste Bestandsgebäude herauspickt, nur um behaupten zu können, noch höher wäre auch vertretbar.

Wir als Bürgerinitiative können diese Herangehensweise, die unserer Meinung nach nur den Zweck verfolgt hat, die durch das Seniorenquartier entstehenden Mehrbelastungen schön zu reden, prinzipiell nicht gut heißen. Dies schreiben wir ausdrücklich nicht nur in Hinblick auf die Situation der Anwohner in Gürzenich und die Seniorenwohnanlage Am Wingert. Gesellschaftlich gesehen öffnet diese Denkweise einer bösen sozialen Abwärtsspirale Tür und Tor, in Gürzenich, wie anderswo. Denn mit dem Wink auf andere geht es ja immer noch breiter, höher, schneller, dichter, schlimmer. Bis wir alle ganz unten angekommen sind. Gemäß dem Motto: „Anderen geht es schlecht, also warum nicht auch Dir?“

Es ist nicht schwierig sich auszumalen, wohin das im konkreten Fall führen wird. Rund um das Seniorenquartier wird der Gedrängefaktor steigen. Der soziale Stress wird zunehmen. Die Anwohner, die jetzt schon in einem immer voller gewordenen Wohnviertel leben, was sie so nie wollten, werden unzufrieden zurück gelassen. Einige Anwohner haben bereits den Wunsch geäußert, sie wollten am liebsten von hier weg ziehen. Aber realistisch betrachtet können das nur wenige, denn das einmal finanzierte Einfamilienhäuschen bindet. In den umliegenden Straßen wohnen keine Millionäre, die sich in Villenviertel oder Steueroasen absetzen können, sondern gerade mal Zugehörige der schwindenden gesellschaftlichen Mittelschicht, die von der Politik gerne umworben, aber dann im Regen stehen gelassen wird.

Bedauerlich, wie wenig motivierend, um nicht zu sagen desillusionierend dieser politische Prozess auf die Menschen, die ihn hautnah erlebt haben, gewirkt haben dürfte. Sollte es nicht der eigentliche Anspruch unserer wohlhabenden Gesellschaft sein, Lebensverhältnisse zu verbessern und die Umwelt zu schützen? Statt die Lage in Gürzenich zu verschlimmern, sollten wir unsere Anstrengungen eher darauf konzentrieren, die Lebensqualität in den Wohnquartieren zu verbessern. Um das Seniorenquartier Am Wingert argumentativ durchsetzen zu können setzt unsere Lokalpolitik aber lieber darauf, die Einen gegen die Anderen auszuspielen.  Schlimm ist, dass man so die ohnehin poilitikverdrossenen  Bürger nicht mitnimmt, sondern in ihnen eine große Bitterkeit zurücklässt. Positives Menschenfischen jedenfalls geht anders.